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Gudrun Leyendecker

geb. 19.05. 1948 in Bonn

 

 

Leben

Leyendecker wurde als viertes Kind des Kunsthistorikers Dr. Ernst Lang und seiner Frau, der Pianistin Margarethe Lang, geboren. Die Eltern musizierten gemeinsam, verfassten Gedichte und zeigten ihre Talente in zeichnerischen Werken und Gemälden. In der Kindheit schrieb sie später Kurzgeschichten und Romane, die allerdings nie veröffentlicht wurden.

Sie hielt Kontakt mit dem Engelbert-Verlag in Balve, der sie zum Dank und zur Anerkennung ihrer Gedichte mit Kinderbüchern belohnte. Ihr früher Wunsch, Schauspielerin zu werden, erfüllte sich nicht. Der Vater riet ihr von diesem Vorhaben ab, sein Berufswunsch für seine dritte Tochter war Ärztin. Nach der Zeit in einem Mädchengymnasium erlernte sie auf Anraten des Vaters das Buchbinder-Handwerk. Leyendecker heiratete und widmete sich der Erziehung ihrer beiden Söhne; in freien Stunden malte sie und verfasste Romane.

Während ihrer zweiten Ehe, die sie 1991 schloss, wurde sie schriftstellerisch tätig. Da sie einige Jahre in der Lebensberatung tätig war, verfasste sie zunächst zwei esoterische Bücher, später folgten Romane und Ratgeber.

Leyendecker arbeitet seit 2012 als Komparsin für die Agentur Eick, Ennepetal. Sie spielt seitdem auch in verschiedenen Serien kleinere Rollen (ARD Heiter bis tödlich, RTL Verdachtsfälle, Kabel 1 Achtung Kontrolle, Nebenrolle in "Loverboy" mit Götz George).

John's friends' sites

 

 

 

 

 

GEDICHTE UND GEDANKEN

 

Glück in kleinen Händen

 

- Trümmer und Träume rund um den Venusberg -

 

Durch die belaubten Zweige blinzelten die Sonnenstrahlen und hüpften in farbigen Funken, während der Wind die Blätter der mächtigen Eichen und Haselsträucher leise streichelte. Wie immer, wenn sie diesen einsamen Weg entlang ging, spürte Henriette wie ihr Herz unruhig pochte. Die knorrigen Bäume und die Büsche mit ihren weit ausgestreckten Armen sahen aus wie die verwunschenen Feen und Kobolde in den Märchen, die in ihrem Kopf herum spukten. Knarrende Äste lachten und der flüsternde Wind kicherte.

Mit wachsamen Augen schaute das Mädchen in das Dickicht, das einen Dschungel voller Gefahren zu bergen schien. Dabei waren es kaum mehr als dreihundert Meter, die der einsame Weg durch den Wald führte und die alte Baracke von der Straße trennten.

Henriette setzte die Füße in den alten Ledersandalen vorsichtig hintereinander, glücklicherweise schien der erdige Belag des Bodens das Geräusch ihrer Schritte zu verschlucken.

Ob Doris auch Angst hatte, wenn sie morgens von der Baracke aus zur Schule ging? Immerhin war es jetzt, im Mai, früh um diese Zeit nicht mehr dunkel, doch die Schattenspiele des Lichts ließen zu jeder Tageszeit spöttische oder gruselige Fratzen aus dem Dickicht hervorlugen.

Sie kannte jede Wegbiegung genau, jetzt mussten es ungefähr noch fünfzig Meter sein, denn hinter einem dichten Gebüsch tauchte der dunkle Giebel des lang gezogenen Gebäudes auf.

Henriette begann, schneller zu laufen und rannte die letzten Meter ohne sich umzuschauen bis an den alten, verwitterten Holzzaun.

Außer Atem blieb sie mit mächtig pochendem Herzen stehen. Vor ihr öffnete sich eine Oase des Lichts, in der auf der linken Seite der Tümpel einen Bombentrichter füllte, über dessen dunkelgrünem Wasser ein Spielmückenschwarm eine komplizierte Choreografie zu tanzen schien. Gleich dahinter drängte sich der blühende Fliederbusch mit großen, violetten Blütendolden ins Bild, und als ob diese lockenden Farben noch nicht genug seien, verströmte er seinen süßen Duft in ungenierter Weise.

Im Schatten darunter lagen zwei getigerte Katzen Rücken an Rücken, reglos, mit ihren Sinnen verschwunden in einem entfernten Traumland. Der große, schwarze Kater sonnte sich weiter rechts auf dem Platz vor der Baracke, er ließ die Krallen spielen, seine Schwanzspitze glich der einer zuckenden Schlange. Eine weitere, schwarzweiße Katze, löste sich aus dem dunklen Versteck einer Uferpflanze, mit geschmeidigem und zugleich majestätischem Gang setzte sie sich in Bewegung, um Henriette zu begrüßen.

Im selben Moment öffnete sich auf der rechten Seite ganz hinten die letzte der drei Türen der lang gezogenen Baracke, ein etwa achtjähriges Mädchen mit blondem Pferdeschwanz stürmte heraus und winkte aufgeregt.

„Komm schnell, Henny! Ich muss dir etwas zeigen.“

Vergessen war die Angst, vergessen alle Hexen und Zauberer, Henriette folgte ihrer Freundin Doris in das dunkle Innere. Im Flur angekommen, hielt sie für kurze Zeit den Atem an. Der Geruch von Feuchtigkeit, Moder und Katzenexkrementen stieg beißend in ihre Nase.

Dieser Geruch wohnte nicht nur hier, sondern stieg auch aus Doris Kleidern, aus ihren Haaren. Dieser Geruch war auch unter anderem Schuld daran, dass sie von den anderen Mädchen und Jungen der Klasse gemieden wurde, ja, was Henriette besonders schlimm erschien, nicht einmal zu den Geburtstagsfeiern eingeladen wurde.

Sie schüttelte sich kurz bis sie sich an den Geruch gewöhnt hatte.

„Wie viele Katzen habt ihr jetzt?“

Doris überlegte kurz. „Siebzehn, glaube ich. Aber zwei von ihnen bekommen gerade wieder Junge. Das werden Maikatzen. Maikatzen sind besonders gute Katzen.“

Henriette hob die Augenbrauen. „Warum?“

„Weiß ich auch nicht. Ich glaube, weil es jetzt so schön warm ist. Am Futter kann es

 

nicht liegen, unsere Katzen müssen sich ihr Essen nicht selber suchen. Komm her! Du hast meine neue Puppe noch nicht gesehen.“ Sie zog die Freundin in einen Raum, der überquoll an Kleidern, die auf Stühlen und einem Tisch lagen und Kartons, die sich auf dem Boden und den Schränken stapelten. Dazwischen lag Spielzeug, in einem hölzernen Puppenbett teilten sich zwölf Puppen den wenigen Platz.

„Hier ist sie! Bella! Mit Schlafaugen!“ Sie zog eine schlanke Celluloidpuppe aus der Mitte, sie war in ein glänzendes, rosafarbenes Kleid gehüllt, blonde Zöpfe umrahmten das zarte Gesicht.

„Mit Schlafaugen!“ Henriette staunte. „Zeig mal, wie das aussieht!“

Aufmerksam beobachteten sie die Bewegungen der gläsernen Augen und der langen, seidigen Wimpern.

„Die hat mir mein Vater letzte Woche mitgebracht“, berichtete Doris. „Heute ist wieder Freitag, heute bekommt er wieder Geld. Ich bin gespannt, was er uns heute wieder mitbringt.“

„Bringt er euch immer etwas mit?“ 

„Nein, nicht immer. Nur, wenn er viel getrunken hat. Aber er bringt dann immer uns allen etwas mit. Für Mama meist Pralinen.“

„Toll. Ich meine, dass ihr so viele Sachen bekommt. Das ist bei uns nicht drin. Wir müssen sparen, weil mein Vater gerade das Haus gebaut hat. Es ist noch lange nicht fertig, sicher müssen wir noch viele Jahre sparen. Aber nächste Woche, wenn ich Geburtstag habe, gibt es bestimmt etwas Schönes. Am meisten freue ich mich über das Buch, das immer dabei ist.“ Mit sehnsüchtigem Blick streifte sie die Puppe. „Wie ist dein Vater denn, wenn er getrunken hat?“

„Er trinkt nur freitags, wenn er Geld bekommt. Dann singt er den ganzen Weg bis nachhause. Wenn man dann ruhig ist, bleibt er auch ruhig, aber wenn man irgendetwas sagt, fängt er an zu brüllen.“

„Ich finde es ganz schlimm, wenn Erwachsene brüllen. Wenn ich mal Kinder habe, werde ich nie brüllen. Ach, jetzt hätte ich es fast vergessen. Hier ist deine Einladung zu meiner Geburtstagsfeier.“ Sie reichte Doris eine buntbemalte Karte. „Ulrike, Brigitte und Hannelore werden auch kommen.“

„Danke! Ja, ich glaube, ich darf auch kommen. Aber später, nein, Kinder möchte ich nicht haben, meine Mutter ist immer krank, ich glaube das ist, weil wir hier mit sechs Personen in zwei Zimmern leben. Nebenan wohnen ja meine Tanten und Onkel mit ihren Familien, die haben es genauso eng.“

„Meine Mutter hat auch oft Kopfschmerzen, aber ich glaube nicht, dass wir Kinder daran schuld sind. Weißt du, ich glaube, sie ist traurig, weil sie es jetzt nicht mehr so schön hat wie früher.“

„Was gab es früher bei ihr besonders Schönes? Das verstehe ich nicht. Ihr habt doch gerade ein neues Haus gebaut. Dein Vater hat eine Arbeit gefunden…“

„Ja, das schon. Aber meine Mutter wohnte früher in Dresden in einem wirklich großen Haus, das war lange vor dem Krieg. Da gab es zum Beispiel ein Dienstmädchen und sogar einen Hausmeister. Es muss alles sehr vornehm gewesen sein. Sie schwärmt immer noch davon. Es muss auch sehr lustig gewesen sein, denn sie erzählt von großen Festen. Hier in unserem Haus ist alles noch unfertig, weil mein Vater das meiste selbst macht. Er streicht und tapeziert, legt Böden und nagelt Latten an die Decke, und trotzdem reicht das Geld hinten und vorne nicht. Das ist meine Mutter nicht gewohnt.“

„Dann könnt ihr doch umziehen in das große Haus“, schlug Doris vor.

„Das geht nicht. Es ist zwar eins der wenigen, die in Dresden nicht zu Trümmern wurden, aber es gehört jetzt irgendwem in der DDR. In ein paar Wochen fahre ich mit meiner Mutter dorthin und besuche da meine Tante und meine Stief-Omi. Wir fahren mit dem Zug, ich freue mich schon riesig. Meine Mutter schwärmt so von Dresden, sie war sehr glücklich dort und ich bin schon sehr gespannt. Leider ist dort so viel kaputt.“

„Hier in Bonn gibt es auch viele kaputte Häuser, das sieht schrecklich aus. Ich verstehe nicht, wie man Krieg machen kann“, fand Doris.

„Nein, das verstehe ich auch nicht. Das sind doch erwachsene Menschen, die müssten doch wissen, was sie tun. Die vielen Menschen, die dabei sterben! Das ist doch fürchterlich! Und alles, alles wird kaputt gemacht. Nein, Krieg muss doch wirklich nicht sein. Die Menschen können sich doch vertragen. Wenn ich mal groß bin, werde ich dafür sorgen, dass es keinen Krieg mehr gibt. Wir werden später so etwas nicht mehr mitmachen. Da bin ich ganz sicher.“

„Ich auch“, stimmte Doris zu. „Es ist doch ganz einfach: Die Soldaten dürfen einfach alle nicht kämpfen. Und die Soldaten sind in der Überzahl. Wenn ihnen einer befiehlt, zu kämpfen, könnten sie ihn einfach überstimmen. Oder gibt es etwa auch Menschen, die Spaß am Krieg haben?“

„Mein Onkel Ferdinand erzählte mir, dass es einige Menschen gibt, die am Krieg Geld verdienen, aber so viele können das unmöglich sein. Die meisten Menschen möchten ganz sicher in Frieden leben. Und die müssen bestimmen dürfen. Ich versuche auch immer, mich mit meinen Schwestern n i c h t zu zanken, aber manchmal geht es nicht. Trotzdem, man muss die Menschen einfach überzeugen.“

Mit einem knarrenden Geräusch öffnete sich die hölzerne Zimmertür. Eine kleine, blasse Frau betrat in gebückter Haltung das Zimmer. Mit der einen Hand strich sie sich eine Strähne des farblosen Haares aus der Stirn, mit der anderen glättete sie die bunte Leinenschürze.

„Dein Vater kommt gleich nachhause“, ihre Stimme klang matt und tonlos. „Hast du die Küche schon aufgeräumt und die Suppe auf den Ofen gestellt?“

„Nein, Mama. Ich habe bis eben Hausaufgaben gemacht. Und dann habe ich Henny nur gerade meine Puppe gezeigt. Können denn Rita und Susi nicht auch etwas tun?“

„Susi ist noch zu klein, und Rita ist mit Tante Grete zum Einkaufen in die Stadt. Mir geht es nicht gut, ich lege mich gleich wieder hin. Also beeil dich, Vater muss jeden Moment kommen.“

 

(Für die Leseprobe wurde hier Text des Originals ausgelassen.)

 

 

Henriette überlegte. Soll ich mich jetzt leise zurück schleichen oder ganz schnell rennen ohne nach Links und nach Rechts zuschauen? Sie entschied sich für das Letztere. Als sie an der Straße angelangt war, wusste sie nicht, ob ihr Herz aus Angst oder wegen des schnellen Laufs so heftig pochte.

„Geschafft“, dachte sie und atmete auf. Ihre Hände griffen in die Anoraktasche. Sie fühlte darin die beiden Karten, die Einladungen für Hannelore und Brigitte. Die Sonne stand noch recht hoch, es schien also noch früh zu sein. Dann konnte sie gleich noch zu den Freundinnen gehen und die Karten abgeben.

Sie ließ das Elterhaus rechts neben sich liegen und spazierte an der frischgrünen Buchenhecke entlang und bog dann in die Seitenstraße, in der rechter Hand gleich auf dem zweiten Platz das alte Haus der Großeltern lag. Es gehörte zu einem der wenigen Häuser, die noch vor dem Krieg erbaut waren, und glücklicherweise hatten es die hier reichlich gefallenen Bomben verschont. Lediglich wenige Grateinschläge zeigten ihre Spuren an der Fassade.

Ein Schauer überlief Henriette, wenn sie an die vielen Bombentrichter ringsumher dachte. Man trat an sie heran mit einem unbestimmten Angstgefühl. Was hatten diese Dinger, die sie sich wie Meteoriten vorstellte, Gruseliges angerichtet?! Welche schauerlichen Geschichten bargen diese großen Erdlöcher, die man nicht betreten durfte, weil sie vielleicht noch irgendetwas Explosives bargen? Zwischen den tiefen Gräben hier im Kottenforst zeigte sich der Boden mit Hügeln und Tälern, und man konnte nie ganz sicher sein, ob es sich um natürliche Bodenwellen oder hintereinander liegende Bombentrichter handelte.

„Haus Waldfrieden“ las Henriette im Vorübergehen am Eingang des großelterlichen Hauses, in das sich der Großvater 1931 zur „Ruhe“ gesetzt hatte. Hier konnte er seine Arbeit als Presbyter wahrnehmen, sich religiöser Lektüre widmen und seine Leidenschaft der Gartenarbeit ausleben.

Wie liebte sie seinen Blumengarten, in dessen gepflegten Beeten von März bis Oktober die farbenfrohen Pflanzen mit ihrer frohen Leuchtkraft wetteiferten! Nach den ersten Schneeglöckchen im Februar gaben Primeln in rot-, gelb-, und violetten Kränzen und Krokusse, die ihre spitzen Pfeile demonstrativ in die Luft streckten, in zartem Pastell den Auftakt zu einem neuen Frühling. Die orange- und purpurfarbenen Dahlien dagegen rollten im Herbst ihre kleinen Blumenblätter, als wollten sie all diese Farben für den trüben Winter sammeln und beschützen.

Die Zeder, die schon fast die Größe des Hauses erreicht hatte, erschien ihr wie eine

 

große Fee, die sich ihren grünen, filigranen Schleier angezogen hatte, und in der Tanne dahinter nistete jedes Jahr ein Wildtaubenpaar, wobei es vorkam, dann man unten im Polster der weichen, alten Nadeln ein zerbrochenes, blau gesprenkeltes Ei fand.

Wenn die schlanken Vögel aus der Höhe ihr verheißungsvolles Gurren herunterschickten, erschien es Henriette, als seien sie ein verwunschenes Prinzenpaar, das um Entzauberung bat.

Sie riss ihre Gedanken los von dem Garten, der so reich war an Winkeln voller märchenhafter Eindrücke wie ihr dickes, bebildertes Lieblingsbuch.

Indessen war sie an den wenigen, alten Einfamilienhäusern vorbeigegangen, hatte die Straße und eine Wiese überquert und lief auf die weißen Hauserblöcke zu, die von der Gesellschaft „Garten und Heim“ erbaut waren. Hier wohnten Beamte der Ministerien mit ihren Familien.

Einem Gespräch der Eltern hatte Henriette entnommen, dass Brigittes Vater einen höheren Posten bekleidete, Ministerialrat oder so ähnlich…

Die Kornmeyers wohnten im ersten Stock mit Balkon, eine hübsche kleine Wohnung, hell, übersichtlich und ordentlich. Da störten auch ein paar alte Stilmöbel nicht, die mit schlichtem, zeitlosem Mobiliar kombiniert waren.

Brigittes Mutter öffnete Henriette die Tür, sie war groß und schlank, trug ein elegantes, graues Kostüm, eine schlichte Hochsteckfrisur hielt das glatte, schwarze Haar gefangen und erlaubte eine ausgiebige Betrachtung der goldenen Ohrringe. Im Gesamtbild wirkte sie streng, fast kühl, aber das herzliche Lächeln und der milde Ton ihrer Stimme widersprachen diesem ersten Eindruck.

„Du hast Glück, Henny. Brigitte ist da und Hannelore besucht sie seit einer Stunde. Geh nur ins Kinderzimmer, ich bringe dir gleich eine Limonade!“

Die Freundinnen saßen im Kinderzimmer auf dem Boden und betrachteten ein Poesiealbum. Sie steckten die Köpfe eng zusammen, Henriette erblickte zuerst Brigittes blonden Pferdeschwanz, den eine rote, seidige Schleife zierte und dann Hannelores dunkles Haar, das zu ordentlichen Zöpfen geflochten war, die von braunen Spangen zusammengehalten wurden.

 

Sie blickten kurz auf und begrüßten die Freundin mit einem „Hallo“.

„Sieh mal, was ich für tolle, neue Glanzbilder bekommen habe! Sogar mit Glitzerzeug dran!“ Brigitte tippte auf das Album.

Henriette setzte sich zu den beiden Mädchen auf den Teppich und bestaunte die kleinen bunten Blumen- und Engelmotive, deren Glanz zum Namen der kleinen Bildchen beitrug. Sie lasen die Sprüche, Gedanken und Wünsche, die mit blauer Tinte eingeschrieben standen.

„Wie doof!“ Hannelore schnitt eine Grimasse. „Einen Spruch hast du viermal. „Sei heiter und froh, wie der Mops im Paletot“.“

Henriette kicherte. „Das kommt daher, weil der Spruch so kurz ist. Das haben dir alle Schreibfaulen geschrieben.“

Frau Kornmeyer betrat nach einem kurzen Klopfen das Kinderzimmer und brachte Limonade in formschönen Gläsern. „Wenn ihr ein paar Butterkekse möchtet, dann meldet euch.“ Sie wirkte heiter und gelassen. „Dann noch viel Spaß!“ wünschte sie den Kindern und verließ den Raum.

Henriette stellte sich Doris Mutter neben Frau Kornmeyer vor. Kein Wunder, dass sie keinen Kontakt hatten, sie schienen in zwei verschiedenen Welten zu leben. Und wo gehörte sie selbst hin? Möglicherweise in keine von beiden. Aber die Welt war ja bunt und groß, und es gab genug Platz für alle und jeden.

„Wollen wir mit den Puppen spielen? Wir könnten auf den Balkon gehen und das Puppengeschirr mit hinaus nehmen“, schlug Brigitte vor.

„Henny, wir haben beide neue Käthe-Kruse-Puppen“, informierte sie Hannelore.

Diese Puppen kosteten ein Vermögen, etwa fünfzig bis hundert D-Mark, und das war etwa der Betrag, den Henriettes Mutter für den wöchentlichen Einkauf ausgab, und zwar für eine sechsköpfige Familie.

„Du hast noch immer keine, nicht wahr?“ stellte Hannelore mit einem Lächeln fest, das teils mitleidig, teil selbstzufrieden wirkte.

„Nein, noch nicht. Aber ich habe ja bald Geburtstag, sicher bekomme ich dann auch eine. Oder vielleicht, wenn mein Vater mit seinem Buch fertig ist, das er gerade schreibt.“

 

„Dein Vater schreibt ein Buch?“ fragten die Freundinnen wie aus einem Mund.

„Das glaube ich nicht.“ Hannelore schüttelte den Kopf.

„Es sind keine Geschichten, auch kein Roman. Es ist über Orte und Landschaften und heißt „Eifel, Mosel und Ahrtal“. Er sieht sich all diese Orte an und beschreibt die Sehenswürdigkeiten.“

„Ach“, machte Hannelore gedehnt. „Das ist doch dann kein richtiges Buch. Das kann doch jeder.“

„Bestimmt nicht. Er versteht nämlich etwas von Burgen und Schlössern und Kirchen, das hat er doch studiert. Und wir fahren oft gemeinsam dorthin und sehen uns alles an.“

„Ach, wie langweilig“, meinte Brigitte. „Er sollte lieber Romane schreiben. Oder Kinderbücher. Hast du dir wieder eine neue Geschichte ausgedacht?“

„Ja, schon. Aber wir können auch bis morgen warten. Ich erzähle sie euch dann in der Pause auf dem Schulhof. Du wolltest doch mit den Puppen spielen. Ach, da fällt mir ein: ich habe noch eure Geburtstagseinladungen. Hier!“ Sie reichte den Freundinnen die handgeschriebenen Karten, die die beiden eingehend betrachteten.

„Warum nimmst du denn nicht die vorgedruckten?“ Hannelores Stimme klang überheblich. „Da brauchst du nur noch den Namen und das Datum einzutragen.“

„Ich finde das aber schöner so“, verteidigte Brigitte die Freundin. „Da hast du dir wirklich Mühe gegeben, Henny. Such dir eine Puppe aus! Vielleicht willst du Karin, die hier mit den blonden Locken.“

Jedes Mädchen wählte sich eine der zahlreichen Käthe–Kruse-Puppen aus und schlüpfte in die Figur seiner Fantasie. Kurze Zeit später gerieten sich Brigitte und Hannelore in die Haare und stritten heftig.

Henriette überlegte, ob sie sich einmischen sollte, aber nach einem kurzen, vergeblichen Versuch, die beiden zu beruhigen, entschied sie sich zu gehen. Sie hasste Streit. Sie fühlte sich hilflos, wenn die Eltern stritten und wütend, wenn es scheinbar so gar keinen Grund gab. Nein, jetzt wollte sie lieber allein sein, sich etwas ausdenken, eine Geschichte, eine Reise ins Land der Wünsche und Träume, denn die Figuren ihrer Fantasie kannten keinen Streit.

Sie verabschiedete sich eilig von den Freundinnen, bei Frau Kornmeyer mit einem artigen Knicks und einem „Dankeschön für die Limonade“.

Draußen atmete sie auf. Das Grün der Gärten umfing sie im hellen Sonnenlicht, es duftete nach gemähtem Gras.

Sollte sie den Rückweg hinter den Gärten nehmen oder vielleicht einen kleinen Umweg zu der Geschäftszeile machen, die seit Kurzem neu errichtet war? Das Interessanteste daran war das Schreibwarenlädchen, denn man konnte sich dort neben den üblichen Dingen, die für die Schule wichtig waren, einige Bücher und eine Menge an Geschenkartikeln anschauen. Da gab es Bälle aus Seidenpapier, kleine Büchlein mit weisen Sprüchen und zarten Blumenbildern, geschlossene Muscheln, die man in ein Glas Wasser legte, und die sich nach einiger Zeit öffneten, um eine zarte, farbige Papierblume in die Höhe steigen zu lassen. Es gab kleine Tiere aus Holzelementen und Holzperlen mit Fäden durchzogen, die auf einem Holzpodest standen und ihre Beine schlapp einknickten, wenn man die Unterseite drückte. Es gab bunte Stifte in allen Größen, die fertige Geschichten schon in sich zu tragen schienen und festlich gebundene Bücher voller weißer Seiten, die zum Schreiben einluden. Wenn Henriette ein solches Buch in der Hand hielt, hatte sie das Gefühl, die einzelnen Seiten seien schon beschrieben mit einer Geheimschrift aus Apfelsinensaft, und sie müsste nur noch einmal mit dem Bügeleisen darüber fahren, um das Geschriebene sichtbar zu machen.

Weiße Blätter waren ein Abenteuer, das man entdecken und erleben konnte, und gebunden in Büchern forderten sie zu etwas besonders Großartigem auf.

Außerdem gab es in dem Lädchen ein kleines Sortiment an Spielzeug, das Henriette außer den kuscheligen Stofftieren nicht halb so interessant fand.

So verlockend ihr der Ausflug zu dieser Ladenzeile auch schien, sie entschloss sich für den kurzen Heimweg zum elterlichen Haus, vorbei an den alten Häusern und den alten gepflegten Vorgärten, denn es mochte schon später Nachmittag sein. Eine Uhr besaß sie nicht, die bekam man erst zur Konfirmation, und einen Kirchturm, der eine Kirchturmuhr besaß, gab es in diesem Wohnviertel nicht.

Henriette freute sich schon auf den kleinen, drolligen Terrier, der sie gleich zuhause

 

begrüßen würde. Und auf ihre Schaukel im Garten, die sie sich selbst aus einem Brett und zwei Stricken gebastelt hatte. Bäume gab es da genug, mehrere hohe Kiefern, schlanke Buchen, mächtige, breite Eichen mit einladenden Ästen und helle, schlanke Birken mit hängenden Zweigen.

Man fühlte sich leicht auf der Schaukel und konnte die Wolken am Himmel bestaunen, die Wolkenbilder betrachten und Figuren daraus enträtseln, man konnte wünschen und träumen…

In diesen Träumen sah sie sich oft als Prinzessin, die Aufgaben zu lösen hatte, aber irgendwie verhedderte sie sich immer darin, und sie schaffte es nie bis zu der Stelle, wo sie der Prinz erlösend küsste.

Mira, der kleine Hund, erwartete sie schon vor der Haustür mit freudigem Gebell. Nana, die vier Jahre ältere Schwester öffnete ihr. Sie hielt den Zeigefinger an den Mund. „Pst! Leise! Mama hat wieder Migräne!“

Henriette verzog das Gesicht. „Oh! Das ist schlecht. Dann können wir bestimmt morgen nicht an die Ahr fahren. Papa wollte mit uns nach Adenau.“

„Ja, das wäre bestimmt schön geworden. An der Ruine der Nürburg spielen…“

„…und hinterher im „Wilden Schwein“ essen gehen“, ergänzte die kleine Schwester.

„Das kannst du vergessen“, orakelte Nana. „Jetzt, wo wir das Haus haben, können wir uns das nicht mehr leisten. Weißt du noch früher, als wir bei Oma und Opa im Haus wohnten? Da sind wir sonntags ganz oft nach Binzenbach ins Sahrbachtal gefahren, und es gab Schnitzel für uns, vorher eine Suppe mit Sternchennudeln und hinterher einen Pudding.“

Henriette verdrehte die Augen. „Herrlich! Das waren noch Zeiten. Naja, Papa hat das nur gemacht, um Mama aufzuheitern, wegen der vielen Migräne, und weil es für uns sechs Personen bei Opa und Oma in den zwei Zimmern genauso eng war wie bei Doris in der Baracke. Aber gut hat es geschmeckt, das Essen im Haus Hupperich.“

„Und hinterher haben wir am Bach gespielt, das vermisse ich auch“, bedauerte Nana. „Vielleicht geht es ihr morgen schon besser.“

„Wer kocht heute? Papa oder Sabrina? Ich hab ganz riesigen, schrecklichen Hunger!“

„Papa ist noch unterwegs, heute ist er die Tour Düren–Aachen gefahren, wenn er dort Kunden besucht, wird es ja immer später. Aber Sabrina hat schon einen großen Topf Pellkartoffeln gekocht und Kräuterquark angerührt. Wir müssen nur noch den Salat waschen. Opa hat ihn aus dem Garten gebracht, da ist viel drin, Erde und bestimmt auch ein paar Schneckchen.“

Henriette stöhnte. „Oh, nicht schon wieder! Ich kann diesen Salat nicht mehr sehen. Aber immerhin ist er ja umsonst. Und gesund soll er auch sein.“

Da bist du nicht die Einzige, die stöhnt. Mama hat sich auch schon über die großen Kisten voll Gemüse und Salat geärgert, und nicht nur wegen der Schnecken. Das können wir trotz unserer großen Familie gar nicht aufessen, und es wird womöglich schlecht.“

„Was für eine verrückte Welt! Es gibt Länder, in denen die Menschen heute hungern, und im Krieg sind auch so viele Menschen ohne Essen gewesen. Opa sollte das Gemüse verschenken oder weniger anpflanzen oder...“

„Da, hör mal!“ Nana zeigte auf die Hallentür, „Chopin. Mama übt wieder. Sie sitzt am Flügel. Es geht ihr also wieder besser.“ Durch die geschlossene Tür erklangen Töne wie perlende Tropfen.

„Müssen wir trotzdem Salat waschen?“ fragte Henriette, ihre Augen leuchteten hoffnungsvoll.

„Natürlich. Für Mama ist das jetzt sehr wichtig. Auch wenn sie nicht mehr ihren Beruf ausübt, sie muss immer viel üben, damit ihre Finger gelenkig bleiben.“

„Na gut! Ich wollte zwar noch ein bisschen malen, aber das kann ich dann auch noch später. Morgen muss ich noch die Geburtstags-Einladungen für Verena und Ulrike wegbringen. Wir müssen noch eine Liste aufstellen, die Spiele aufschreiben, die wir uns für den Tag vorgenommen haben. Darauf freue ich mich schon das ganze Jahr.“

                                                          ***

Verena wohnte im Haus nebenan. Das Haus lag versteckt unter den großen Kiefern und Eichen, man entdeckte es erst kurz bevor man an dem hohen Metallzaun stand. Es wirkte unnahbar und ließ auch nicht jeden hinein. Links vor dem Haus versteckt stand nämlich eine kleine Baracke, in der Kriminalbeamte ihren Dienst taten und genau darauf achteten, wer sich dem Haus näherte. In einem großen Zwinger direkt daneben lauerten zwei große dressierte Schäferhunde, die unvermutet ein lautes Gebell ausstießen, gerade wenn man sich den Mut genommen hatte, auf den hoch liegenden Klingelknopf zu drücken.

Manchmal liefen sie auch auf dem Grundstück frei herum, irgendwo im Hintergrund lauerte dann der Beamte zwischen den Büschen. Aber das hatte auch seinen guten Grund:  In der Villa  wohnte der Bundespräsident, der Tag und Nacht bewacht wurde. 

Oben in der Einliegerwohnung lebte Verena mit ihren Eltern. Ihr Vater hatte den Posten als Hausmeister. Außerdem arbeiteten beide noch außer Haus, und sie bemühten sich, die Tochter zu einer selbständigen Person zu erziehen.

Henriette drückte den Klingelknopf, ein dröhnendes Gebell schmetterte an ihr Ohr, daraufhin atmete sie auf: Die Hunde, von denen man sich erzählte, dass sie sehr „scharf“ waren und schon einmal einen anderen Hund schwer verletzt hatten, befanden sich hinter den Gittern des Zwingers. Einen Augenblick lang erinnerten sie das Mädchen an Raubtiere im Zoo, die nur auf eine Fluchtgelegenheit warteten.

Aus dem Haus trat ein Mädchen, kaum älter als Henriette. Das kurze, blonde Haar zeigte sich in einem modernen Bubikopf mit Seitenscheitel und einer großen Haarspange, die vorwitzige Haarsträhnen aus der Stirn halten sollte. Zum Glück war die Tolle gerade abgeschafft worden, Henriette erinnerte sich noch gut an die große Welle hoch über der Stirn, die häufig noch mit einer feierlichen Schleife geschmückt wurde.

Das Mädchen Verena trug ein blaues Matrosenkleidchen, dazu weiße Kniestrümpfe und schwarze Lackschuhe, freudig eilte sie der Freundin entgegen. Inzwischen öffnete sich das große Tor wie von Zauberhand, ein misstrauischer Blick streifte den Hundezwinger, während Henriette daran vorbeieilte.

„Spielen wir im Garten?“ erkundigte sich Verena.

„Ach, nein. Lieber nicht. Außerdem wolltest du mir noch die Fotos von deiner Kommunion zeigen. Und deine Geschenke…“

Sie liefen ins Haus, stiegen die bequeme Treppe empor und betraten das Wohnzimmer, dessen dunkle Möbel dem Raum eine ruhige Schwere gaben. Weiße Spitzendeckchen in den Glasvitrinen und eine weiße, mit Blumen bestickte Decke

 

auf einem Esstisch stimmten feierlich, als werde ein leises Auftreten erwartet.

Verena holte ein dickes Fotoalbum aus der Schublade und setzte sich mit der Freundin auf das große, dunkle Sofa, das mit einer hellen Schondecke überzogen war.

„Das sind alles Fotos von meiner Kommunion“, sie tippte auf das Buch und öffnete es. Darin fanden sich zahlreiche Schwarzweiß-Fotos von Verena, mit und ohne ihre Verwandten. In einem zarten, weißen Kleid mit Volants und einem weißen Blumenkränzchen im Haar sah sie aus wie ein kleiner Engel.

Fast so schön wie die Prinzessinnen in Henriettes Träumen. Auch die kleine, weiße Tasche, ein Beutelchen mit Volants und Spitzen und die weiße Kerze, verziert mit goldenen Ornamenten rundeten die zauberhafte Erscheinung ab.

„Wir dürfen zur Konfirmation nur schwarze Kleider tragen“, bedauerte Henriette. „Ich glaube, ich wäre gern katholisch. Mir gefallen auch die schönen alten Kirchen, wo es so gut nach Weihrauch riecht, und alles mit Gold und bunten Bildern verziert und geschmückt ist.“

„Es gibt aber Einiges, was mir nicht gefällt“, verriet ihr die Freundin. „Zum Beispiel, dass ich jeden Sonntag in die Kirche gehen muss, und das viele Beichten mag ich auch nicht. Es macht gar keinen Spaß, wenn man das alles immer tun m u s s.“

„Da hast du Recht. Bei uns in der evangelischen Kirche sieht da keiner so genau hin. Aber mein Opa hätte es schon gern, wenn wir zu jedem Gottesdienst in die Kirche gingen. Da ist er sehr streng. Er selbst geht jeden Sonntag, und er betet vor dem Essen ganz lange Gebete, immer mit einer kleinen Predigt dabei. Er sagt ein Wort aus der Bibel, und erklärt es dann hinterher. Das dauert manchmal endlos lang, und Oma und Mama sind oft sauer, weil das Essen dabei kalt wird. Manchmal, wenn es ganz lange dauert, und unser Hund schon nach seinen Essen knurrt, müssen wir uns das Lachen verbeißen.“

Verena kicherte. „Finde ich lustig. Aber was ich ganz blöd finde, ist, dass sich katholische und evangelische Leute häufig nicht verstehen. Es gibt verschiedene Schulen, manche Kinder dürfen sogar nicht zusammen spielen.“

„Die Erwachsenen stellen sich da oft ganz schlimm an, finde ich“, Henriette blätterte

 

im Fotoalbum. „Als ich mit dem Keuchhusten und der Lungenentzündung im Krankenhaus lag, kam abends eine Schwester zu mir ans Bett, sie war eine Nonne und hatte Weihwasser dabei. Sie forderte mich auf, ein Kreuzzeichen zu machen, aber ich wusste gar nicht wie man das richtig macht. Als Entschuldigung sagte ich, dass ich evangelisch bin, das fand sie gar nicht gut, denn sie ging wortlos aus dem Zimmer, und seitdem war sie sehr unfreundlich zu mir.“

„Es ist schon komisch, dass es solche Trennungen gibt. Dabei sind alle Menschen doch gleich. Und gestern haben wir in der Schule wieder schreckliche Dias gesehen, vom Krieg, von Hitler, von den Nazis, und von den Verbrechen, die sie getan haben. Die wollten ja auch Unterschiede zwischen den Menschen, zwischen den Rassen haben; und was ist da Grauenvolles herausgekommen.“

„Ja, es ist schrecklich, und deshalb werde ich, wenn ich groß bin, etwas dagegen tun. Wenn wir, du und ich und unsere Schulfreunde alle so denken, wird Deutschland nie wieder einen Krieg beginnen.“

„Und wenn dann die anderen Länder mitmachen, werden endlich alle Menschen in Frieden leben können“, überlegte Verena. „Das wird toll! Jetzt muss ich dir aber noch meine Geschenke zeigen. Natürlich habe ich eine Uhr bekommen, viele Bücher, aber auch Geld, das meine Eltern auf ein Sparbuch getan haben. Ganz besonders schön finde ich die Kette mit dem Anhänger von Tante Luise.“

Aus einer Schublade des großen Wohnzimmerschranks holte sie ein schwarzes Schmuckkästchen und entnahm ihm ein goldenes Medaillon. Als sie es öffnete, sah man auf der linken Seite ein Babyfoto von Verena, auf der rechten Seite ein Marienbildnis. Es zeigte eine schöne Frau mit sanften Gesichtszügen und Augen, die hoffnungsvoll und doch demütig blickten. Sie trug einen blauen Umhang und war umgeben von glänzendem, goldgelbem Schein.

„Oh, wie schön!“ Bewundernd betrachte es Henriette. „Schade, wir Evangelischen haben keine heilige Mutter Maria. Ich finde es schön, wenn man zu Maria beten darf. Ich bewundere auch meine Mutter, weil sie so toll Klavier spielen kann, aber Mutter Maria kann man bestimmt auch jedes Geheimnis sagen. Beim lieben Gott habe ich manchmal Angst, er könnte strenger sein, weil er ein Mann ist.“

„Mein Vater ist auch sehr streng“, verriet ihr die Freundin.

 ..........

 

 

 

Heute ist es anders....

( Ein Lied - an der Wiege zu singen )

 

 In unserer Eifel ist man stolz

auf grüne Wälder, manch alten Baum.

Einst sägte man viele Bäume zu Holz,

doch an die Umwelt dachte man kaum.

                         Heute ist es anders.

                             Heute ist es anders?

 

Einst waren auch hier die Menschen dumm

und legten sich mit Kanonen um.

Sie sagten: „Man muß!“ und glaubten nicht dran,

daß man auch friedlich leben kann.

                           Heute ist es anders.

                                Heute ist es anders?

 

Man schuftete früher für wenig Geld,

hat mit Mühe und Schweiß das Feld bestellt,

doch wer sich für andre geopfert hat,

bekam noch lange kein Lorbeerblatt.

                             Heute ist es anders.

                                   Heute ist es anders?

 

Nach getaner Arbeit setzt alles sich hin

zum Märchen erzählen an den Kamin.

Man wiegte die Kinder, sang ihnen ein Lied

so lang bis sie schliefen  - entspannt und müd.

                            Heute ist es anders.

                                  Heute ist es anders?

 

Es gab strenge Eltern mit harter Hand,

manch schlimmer Spruch ist von ihnen bekannt:

„Ein Kind muß man schlagen, wenn es nicht pariert.

Wir wissen, wohin solche Einstellung führt.

                               Heute ist es anders.

                                    Heute ist es anders?

 

Früher gab es auch Leute, die sangen oft,

die haben gebetet, geglaubt und gehofft.

Wenn man Hilfe brauchte, ein Unrecht geschah,

so packte man zu, war für andere da.

                                 Heute ist das anders.

                                       Heute ist das anders?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erinnerst Du Dich?

 

Als Du noch klein warst, winzig noch, an Mutters Brust

Gab es in Deiner Welt fast nur Gefühle – Schmerz und Lust.

Der Eindruck prägte Dich.

Mal einsam, kalt. Mal eingekuschelt weich und warm.

Trostlos entmutigt, wenn Dein Schreien nichts bewirkt.

Dann wieder selig, wenn Du schliefst in Mutters Arm.

 

War immer jemand da, der Deinen Kummer ernst nahm?

                                                     Auch Dein Schrein?

Und etwas später? Wie oft hörtest Du: „Das darfst Du nicht.“

„Das kannst Du nicht.“ „Dazu bist Du zu klein.“ ?

Als Du noch klein warst, wie oft hat man Dir gesagt: „Das machst Du gut!“ ?

Gab es viel Schelte, Schläge? Oder machte man Dir Mut?

 

Der Eindruck prägte Dich. War es: „Du kannst es, schaffst es!“

                                                 Oder lief Dir alles schief?

Es ist auch von Bedeutung, ob man Dich „Baby“, „Männlein“

                                                  Oder immer „Dummkopf“ rief.

„Igittigitt!“ und „pfui“, das prägte sich in Dein Gedächtnis ein, -

bestimmt vielleicht auch heute noch für Dich,

was „eklig“ ist, was „gut“ ist oder „rein“.

 

Versuch in Deiner frühen Kindheit Dich zu finden,

und was Du heute tust, aus frühster Prägung zu begründen!

Entscheide, und bestimme selbst,

                          was für Dich wichtig ist und „fein“.

Fühl Dich geliebt, geborgen und sei stolz,

     Mit Herz und Seele Mensch zu sein!

 

 

                                                     HERBSTLIED

 

 

 

 

                Weht der Herbstwind über Erde,

                                 Welche Düfte trägt er fort!

                Ernteträume, „Stirb und werde“,

                                 der Verheißung ganzes Wort.

 

                Hier die Fülle, die Erfüllung,

                                 süß wie reifer Beeren Wein,

                dort der Laubbaum in Enthüllung

                                 mischt die herbe Würze ein.

 

                Letztes Heu, die Stoppelfelder,

                                 Moderpilz im feuchten Grund,

                altes Laub der Blätterwälder,

                                 Rosen in der letzten Stund.

 

                Erster Rauch vom Martinsfeuer,

                                 von Kartoffeln aus der Glut,

                feuchtes Moos vom Turmgemäuer,

                                  Brombeer wie Rebellenblut.

 

                Soll Dein Leben reich und sinnig

                                 und der Herbst voll Ernte sein,

                liebe auch die Tränen innig:

                                  Weisheit zieht wie Frieden ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   

 

 

 

 

NACH DEM LETZTEN WELTKRIEG.....

 

Leise traten die Zeichen der Zeit in mein Leben,

es waren nicht die großen Schauplätze des Weltgeschehens, ich war nicht die wichtige Zeugin, deren Wahrnehmung zur Überführung der Täter reicht.

Wie kleine Geschehen des Alltags drangen die Zeitzeichen in mein kleines Kinderleben, um sich nachhaltig zu verwurzeln, meinen Lebensweg zu prägen.

Einzelne Bilder sind es, Eindrücke, -  und Bruchstücke von Sätzen, die sich zum Ganzen zusammensetzten.

Begann es mit dem Anblick der vielen Ruinen, der vom Krieg zerstörten Städte?

Da war der Vater, der mir die Augen für die alten Bauwerke der Geschichte öffnete, Bauwerke, so fest und ehrwürdig, für Menschengenerationen errichtet. Daneben die Trümmer von Kirchen, ganzen Stadtvierteln mit Wohnhäusern.....

Da war die Frage nach dem „Warum“ des Krieges, Diskussionen, die ich schon als Kind mit jedem Erwachsenen führte, der sich darauf einließ. Meist hörte ich die Worte: Es wird immer Menschen geben, die sich für den Frieden einsetzen, es wird aber auch immer wieder Krieg geben.“

Was sind Feinde?

 

Im Sommer 1956 reise ich mit meiner Mutter  im Zug nach Dresden. Der Zug hält an der Grenze.  Ich sehe aus dem Fenster: ein Bahnsteig, Menschen, Menschen in Uniform.

Im Abteil stockt das Leben, Männer in Uniform tragen Kälte herein. Koffer werden aufgemacht, durchsucht. Fragen werden gestellt. Jeder Unbeteiligte bleibt erstarrt, wartet.

Endlich, die Uniformen verlassen das Abteil, ein Aufatmen läßt den Raum pulsieren.

Endloses Warten folgt  - bis sich der Zug wieder in Bewegung setzt.

Ich sehe aus dem Fenster, wir haben die Grenze passiert. Sind hier Feinde? Grüne Wiesen und Wälder fliegen an mir vorbei – wie zuhause.

Die Stadt Dresden liegt noch im Koma, einzelne Häuser ragen aus Schutt und Trümmern.

Auf dem Amt begegnen uns „Menschen von drüben“, der eine ist hilfsbereit, der andere unfreundlich, kurz angebunden, - eben wie bei uns.

Eine Tante wohnt in einem winzigen Zimmer. „Ihr müßt leise sein,“ flüstert sie uns zu. „In jedem Haus wohnt ein Spitzel.“

Wir bleiben nicht lange. Der Flur ist dunkel und schmutzig. „Hoffentlich holen wir uns keine Wanzen,“ tuschelt mir meine Mutter zu. Ich kenne sie nur aus dem Kinderlied, diese Tierchen.

Bei der Cousine in Coswig hängen die Bäume in den Plantagen voller Früchte. Ich renne und tanze zwischen den Baumreihen. Es ist doch herrlich hier! Ich singe. „Seht Euch mal die Wanze an, wie die Wanze tanzen kann.“

Eine Dampflokomotive bringt uns zum Schloß Moritzburg, das sich verträumt im See spiegelt.

„Aus diesem Teich hat mich der Klapperstorch geholt,“ berichtet mir meine Mutter, „so hat es mir meine Mutter jedenfalls erzählt.“ Wie schön ist es hier!

Wieder sitzen wir im Zug. Als er an der Grenze hält, ist die Stimmung zum Zerreißen gespannt. Die Uniformen kommen, schauen in die Papiere. Es wird aufgeregt gesprochen. Dieses Mal nehmen Sie jemanden mit.

Es ist still im Abteil, ich wage nicht, etwas zu fragen. Vorsichtig suchen meine Finger Mamas Hand.

 

Ein paar Monate später sah ich sie dann auf Fotos und in Filmen: Die Bilder des Krieges, die Bilder der Verbrechen, die Bilder der Juden – Vernichtung.

Dem ersten Schock folgen die Fragen. Warum ? Warum lassen Menschen immer wieder Krieg zu? Es gibt doch mehr Menschen, die in Frieden leben wollen. Haben sie keine Macht? Warum lassen Menschen Verbrechen zu?

Warum lassen Menschen Böses zu? Viele Fragen – wenig Antworten.

Mein Traum  vom Frieden deckte sich mit dem meiner Freunde. Wir wollten es allen erzählen: die Menschen können auch friedlich  miteinander leben. Die ganze Welt sah es, unsere Blumen, unsere Musik, wir würden sie schon alle überzeugen! Es würde keine Feinde mehr geben und keinen Rassismus, keine Kriegsverbrechen, kein Holocaust.

Wo war Tante Lina aus Berlin? War sie in den Trümmern gestorben, hatte man sie deportiert, gequält, ermordet?

Fragen, Suchaktionen, keine Antwort.

...........

Wir wollen aus der Vergangenheit lernen, wir wollen ein anderes Weltbild prägen, in dem jeder Platz hat, jeder in seiner Art, jeder mit seiner Hautfarbe, seiner Konfession, seiner Denkweise. Das ist nicht schwer, wir haben ja die Fehler der Vergangenheit frisch  und abschreckend vor Augen, das kann man alles nicht vergessen. Das darf man nicht vergessen!

 

Die Wirtschaft wächst, blüht und gedeiht. Die Fremdarbeiter kommen als Handlanger und Aushilfskräfte. Ich sehe den Arbeitern an der Baustelle zu. „ Ich gehe jetzt nach Hause,“ ruft Jupp den Arbeitern um zwölf Uhr zu, „und seid schön fleißig, ihr faulen Spaghetti –Fresser!“

Vielleicht schimpft er in der Wirtschaft mit den vielen anderen auf Fremdarbeiter, vielleicht ißt er später Pizza? Vielleicht fährt er im Sommer an die italienische Adria?

Noch gibt es Arbeit genug, aber der Ausländerhass beginnt schon vorher  ( wieder )zu eskalieren, noch ehe man Arbeitsmangel und Ausländerfeindlichkeit in einen Topf wirft.

 

Wieder ist es im Zug. Wir haben Sommer, einen sonnigen August und schreiben das Jahr 1965. Der Zug hat Verspätung, mindestens eine Stunde, denn an der Bahnstrecke in Sterzing wurde eine Bombe gefunden, einige Südtiroler  kämpfen gegen ihre italienische Landesregierung.

In unserem Abteil sitzen ein paar deutsche Urlauber, schimpfen auf die Fremdarbeiter, wie man sie allgemein nennt. Mutter schläft, meine Schwester bewacht das Gepäck, und ich, gerade siebzehn und angeekelt von den ordinären Ausdrücken meiner Landsleute, verlasse das Abteil.

„Hier im Zug bringen sie gerade wieder einen ganzen Schub von diesen Faulenzern in unser sauberes Deutschland,“ höre ich noch die laute Stimme aus dem Abteil.

Ich denke an Jupp von der Baustelle. Der Zug eilt, als wollte er die Zeit einholen.

Ich streife an den Abteilen vorbei und sehe flüchtig hinein, etwas zwingt mich still zu stehen

Ein Anblick fasziniert mich, magisch fühle ich mich angezogen und verharre gebannt. Neben bunten Koffern mit italienischer Aufschrift hat sich ein junges Paar die Zugsitze zur Liege ausgeklappt. Sie schlafen.

Die dunkelhaarige Frau schmiegt sich eng an den schwarz haarigen Mann. Ihr Gesicht, ihre Haltung drücken Angst aus. Wo fahren wir hin? Was bringt uns die Zukunft? Wie sind die Menschen in der neuen Heimat zu uns? Wird es eine Heimat werden?

Und der Mann? Er  liegt da, ihr zugewandt. Ihr Kopf ruht auf seinem linken Arm. Seine Augenlider bewegen sich in unruhigem Traum. Es ist keine Zuversicht in seinem Gesicht, aber  ein Funken Hoffnung. Sein rechter Arm liegt schützend über ihrem Körper und heißt: „Was auch immer uns im fremden Land begegnet, ich halte zu Dir. Ich beschütze Dich.“

„So sieht Liebe aus,“ fühle ich. Und ich bange mit ihnen um ihre Zukunft. Wie wird es Ihnen in Deutschland ergehen? Ich fühle mich mit verantwortlich.

 

Es ist im Jahre 1999, das Jahrtausend geht zu Ende. Was wird da nicht alles gefeiert. Ab und zu organisiere ich Lesungen für  Kollegen, andere Autoren und auch für mich. Im Buch „Motten haben keinen Mund“ habe ich

Einige Gedanken gegen Rassismus untergebracht. Ich telefoniere mit Buchhandlungen und teste das Interesse für eine Lesung.

Und nun höre ich wieder, - immer noch: „Nein, das Thema wollen wir nicht mehr. Davon wurde genug gesprochen. Das muß alles endlich einmal vergessen sein. Alles Geschichte.“ Ablehnung zu diesem Thema, und der Rassismus lebt weiter. Aber die Gedanken einer friedlichen Welt werden auch weiter leben, und nur die werden in ihrem Leben glücklich gewesen sein, in deren Herzen der Friede lebte.